Das Licht von Venedig

Unsere Bildungsreferentin Dr. Lena Selge berichtet uns heute über eine persönliche Reiseerfahrung und darüber, was das Licht in Venedig mit der venezianischen Malerei zu tun hat:

 

Vor ein paar Jahren war ich zur Recherche für meine Doktorarbeit in Venedig unterwegs. Ich suchte einen Palazzo, in dem der Maler Giovanni Battista Tiepolo ein Deckengemälde geschaffen hatte: Die Apotheose des Admiral Vittore Pisani. Der Palazzo befindet sich heute in Privatbesitz und ist deshalb nicht öffentlich zugänglich. Ich wollte das Bild aber unbedingt sehen und deswegen beschloss ich einfach zu klingeln und zu fragen, ob man mir Einlass gewährt. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren.

Dieses Vorhaben gestaltete sich allerdings problematischer als zunächst gedacht: Bereits die Suche nach der Adresse stellte mich vor einige Schwierigkeiten. Nach einigen Nachforschungen hatte ich zwar die Nummer des Palazzos und das Quartiere, also den Stadtteil, indem er sich befand, gefunden, vor Ort merkte ich allerdings, dass diese Angaben leider auch nicht wirklich weiterhalfen – immer wieder schaute ich auf meinen Zettel mit der Adresse, aber die genannte Gasse war nicht dort, wo der Stadtplan vorgab, dass sie sein sollte. Es schien sie in der Realität einfach nicht zu geben.

Kurz bevor ich aufgeben wollte, entdeckte ich einen sehr schmalen Spalt zwischen zwei Häusern. Dieser Spalt war gerade mal schulterbreit und an der einen Mauerseite befand sich tatsächlich ein Schild mit dem Name einer Gasse – meiner Gasse. Ich trat aus dem strahlenden Sonnenlicht der Piazza hinein in den Häuserspalt und fühlte mich augenblicklich wie in einer anderen Welt!

Ich war schon zuvor in vielen Nebenstraßen Venedigs gewesen, hatte stets die Hauptrouten gemieden, doch das hier war es etwas völlig anderes. Das Licht war seltsam. Obwohl die Passage sehr schmal war und die umliegenden Häuser hoch, fiel das Sonnenlicht direkt hinein. Merkwürdigerweise waren die Wände verschattet, der Weg aber lag in voller Sonne vor mir. Bereits nach einigen Metern schien der Gang in einer Sackgasse zu enden. Als ich allerdings zum vermeintlichen Ende kam, merkte ich, dass er nicht wirklich aufhörte, sondern im 90° Winkel ein weiterer noch schmalerer Weg von ihm abging. Hier konnte ich nun nicht mehr gerade laufen, stattdessen musste ich seitwärts gehen, weil ich sonst nicht durch die Gasse gepasst hätte. Unterwegs musste ich über einige Kartons steigen, die im Weg standen. Ich fragte mich, ob es besser wäre umzukehren, aber es war schattig, angenehm kühl und unglaublich ruhig. Und so entschied ich mein Glück weiter zu versuchen.

Völlig unvermittelt stand ich plötzlich vor einer Holztür, neben der die gesuchte Palazzo-Nummer zu finden war. Völlig perplex, hatte ich doch kaum noch mit einem Erfolg gerechnet, konnte ich mein Glück kaum fassen und klingelte.

Längere Zeit passierte erst einmal nichts. Ich klingelte noch einmal. Dann hörte ich Schritte. Eine Frau öffnete die Tür nur einen Spalt und spähte hindurch. Ich erzählte ihr von meiner Doktorarbeit und bat sie, ob es vielleicht möglich wäre, das Bild Tiepolos zu sehen. Sie schaute mich lange an, sagte zunächst einmal nichts und schließlich fragte sie mich auf italienisch:

»Wie haben Sie uns gefunden?« – »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht« antwortete ich »ich hatte eine Adresse, aber die schien es irgendwie nicht zu geben... Dann war da plötzlich diese unglaublich enge Gasse, der bin ich gefolgt, und dann stand ich schlagartig vor Ihrer Tür«.

Die Frau nickte nachdenklich und mit einem kaum zu erahnenden Lächeln gab sie den Blick in einen prächtigen Innenhof frei und deutete mir ihr zu folgen. Wir überquerten den Hof, der in gleißendes Sonnenlicht getaucht war. Von dort traten in den Androne, die Eingangshalle des Palazzos und schritten eine dunkle Treppe hinauf. Oben angekommen traten wir durch eine Tür in den Saal mit Tiepolos Fresko. An dessen Stirnseite gaben große Fenster die Aussicht auf den Canal Grande frei und sorgten so für ein diffuses und trotzdem helles Licht.

Als ich meinen Blick zur Decke hob, war Tiepolos Apotheose des Admiral Vittore Pisani von flimmernden Lichtwellen überzogen – das Wasser des Kanals vor den Fenstern fungierte als wichtiger Lichtreflektor des Gemäldes. Es veränderte die Farben und Wirkung des Freskos beträchtlich. Die lichten Wellenreflexe schufen die fiktiv erscheinende Atmosphäre einer Eigenwirklichkeit des Bildes.

Das Fresko zeigt den ehemaligen Hausherren in Rüstung, wie er von Venus auf ihrem Wagen in den Himmel begleitet wird. Auf einer Wolke in lichter Transparenz erkennen wir Jupiter und Mars, die den Admiral in Empfang nehmen werden. Am unteren Bildrand sitzen Neptun und ein Flussgott, die beide die Herrschaft über das Meer symbolisieren. In diesem Sinne tragen die reflektierenden Lichtwellen einerseits zum Sinngehalt des Bildes – nämlich der Verherrlichung des Hauses Pisani – bei, und sind andererseits von großer Bedeutung für die Erzeugung der Gesamtatmosphäre. Auch aus anderen Beispielen wissen wir, dass Tiepolo dieses Mittel ganz bewusst eingesetzt hat.

Warum ich diese Geschichte meiner Recherche nun so gerne erzähle, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie zugegebenermaßen eine großartige Venedig-Anekdote ist, die das Klischee der Stadt als mystischen und rätselhaften Ort weiternährt, sondern ich erzähle diese Geschichte vor allem deshalb, weil ich glaube, dass sie etwas für die venezianische Malerei Grundsätzliches anschaulich machen kann: In Venedig geht es vornehmlich um das Licht.

Das Licht von Venedig ist ein ganz besonderes Licht. Es ist strahlend hell, aber trotzdem diffus. Häufig ist der Himmel weiß oder ganz hellblau und überzieht die Gebäude mit einem gleißenden Film. Durch diese Besonderheit ist die gesamte Stadt in eine verbindende Helligkeit gehüllt, der eine strahlende Farbigkeit eigen ist, ohne bunt zu wirken. Das Licht sorgt für eine ganz besondere Atmosphäre und durchdringt die Stadt in vollkommender Weise. Das Licht versieht Venedig mit einer satten Tonalität, die auch im Sommer dazu führt, die omnipräsente Feuchtigkeit dieser Stadt spüren zu können.

Wer schon einmal in Venedig war und erlebt hat, wie die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzert oder die Gebäude im Dunst versinken, der versteht welche Bedeutung dem Licht in Venedig zukommt. Es ist launenhaft und ambivalent – und scheint gleichzeitig die wichtigste Konstante dieser Stadt zu sein. Seine Wechselhaftigkeit präsentiert sich als perfektes Sinnbild für Venedigs Facettenreichtum.

Im Unterschied zu anderen bedeutenden italienischen Kunstzentren wie Florenz oder Rom wird in Venedig die Farbe zum unangefochtenen Primat der Malerei. Ende des Quattrocento, als Venedigs Kunst ihr unverwechselbares Profil erhielt, trat das Zeichnerische immer mehr in den Hintergrund, während die venezianischen Maler eine lichte Malweise und einen lockeren Pinselstrich entfalteten. Sieht man sich venezianische Gemälde des 16. Jahrhunderts an, scheint Venedigs Farbigkeit in den Bildern festgehalten. Retrospektiv betrachtet wirkt der Weg der Farbe, den die venezianische Malerei im Cinquecento nahm als einzige logische Konsequenz aus den Seheindrücken und der Wahrnehmung der Künstler. Man hat den Eindruck, bei diesem Licht konnten sie gar nicht anders malen. Doch ganz einfach ist es natürlich nicht – aber davon vielleicht ein andermal...

Der Text von Lena Selge erschien in leicht geänderter Form erstmalig 2021 auf kunstgedanken-magazin.de 

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