Perspektiven in der Fotografie

Das Wort Perspektive meint ursprünglich so viel wie „hindurchblicken“ oder auch „etwas durchschauen“. Es setzt sich zusammen aus per („durch“) und spicere („sehen, schauen“). Wer etwas durchblickt, nimmt nicht nur das Offensichtliche wahr. Wenn wir andere Perspektiven einnehmen, ändert sich alles. Wenn wir etwas unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten, lösen sich plötzlich alle starren Begriffe auf und je nach Fokus, können sich uns schier unendlich viele neue Möglichkeiten auftun.

„Die Kamera ist ein Instrument, das die Menschen lehrt, ohne die Kamera zu sehen“ – Dorothea Lange

Wir können am Beispiel eines Baumes einmal durchspielen, wie unterschiedlich eine fotografische Perspektive sein kann: Ein Baum kann ein Zuhause sein. Beispielsweise bauen sich manche indigene Völker Baumhäuser, um den Gefahren und Widrigkeiten am Boden zu entgehen. Aber auch Naturschützer:innen beziehen ein Baumhaus, um beispielsweise gegen das Abholzen eines Waldes zu demonstrieren.

Bäume können uns den Weg weisen: Ich kann den Moos- und Flechtenbewuchs auf der Rinde als Hinweis auf die Himmelsrichtung nutzen und in manchen Wäldern erkennen, wo Norden ist. Die Muster am Stamm sind aber auch so wert fotografisch untersucht zu werden: Manchmal formen sich Flechten auf dem Stamm fast zu etwas, das an QR-Codes erinnert – und stecken vielleicht voller geheimnisvoller Botschaften. Die eigene Perspektive kann dabei sowohl ganz ernsthaft sein, aber auch etwas Spielerisches haben.

„Fotografieren ist, wie wenn man spät in der Nacht auf Zehenspitzen in die Küche geht, um Oreo-Kekse zu stehlen.“ – Diane Arbus

Für die Bildkomposition sind Bäume großartig. In Landschaftsaufnahmen helfen sie, das Bild zu strukturieren. Ihre Silhouetten lassen sich spannend bei Nebel oder Gegenlicht inszenieren. Vor allem das Thema Licht lässt sich mithilfe von Bäumen hervorragend untersuchen: Im Sommer kann ich im Park mit der Kamera sogenannte „Sonnentaler“ sammeln – helle kreisrunde Lichtflecken auf dem Boden, die entstehen, wenn Sonnenstrahlen durch das Blätterdach eines Baumes brechen.

Anhand eines Baumes lässt sich auch der Wechsel der Jahreszeiten dokumentieren – und damit das Thema Farbe untersuchen: im Frühling, wenn sich die Blätter von einem zarten Hellgrün allmählich in das satte Dunkelgrün des Sommers verwandeln, oder im Herbst, wenn sie sich leuchtend gelb und rot färben.

Mit einem Makroobjektiv eröffnet sich eine ganz eigene Welt. Insekten, die Muster und Strukturen der Rinde, Baumpilze – der Baum bietet unzählige Motive. Eigentlich ist jeder Baum fast wie eine eigene kleine Welt und bietet Lebensraum für Tiere, Insekten, aber auch für Parasiten wie Misteln, Pilze oder Käfer. Es finden Kämpfe um Nährstoffe, Sonnenlicht und Wasser statt, aber auch Kooperationen und Allianzen.

„Die Leute sagen oft, dass ich ein kindliches Auge habe. Zum Beispiel starre ich auf Ameisen, die sich um Zucker versammeln, oder wenn ich Schutz vor dem Regen suche, betrachte ich Schnecken. Das sind Dinge, die man oft als Kind tut, nicht wahr? Ich habe eine sehr ähnliche Sensibilität dafür.“ – Rinko Kawauchi

Schließlich kann der Baum auch Ausgangspunkt für fotografische Erzählungen sein: Möchte ich, inspiriert von der nordischen Mythologie, mit fotografischen Mitteln eine Geschichte über den Weltenbaum Yggdrasil erzählen, könnte ich Eschen und Eichhörnchen ablichten, besondere Wurzelformen suchen, bei denen man sich so richtig gut vorstellen kann, dass dort Drachen oder Schlangen leben...

Bäume können auch die Grundlage für eine politische Fotoserie werden. Eine Fotoserie über Pappel- und Eukalyptusplantagen könnte zeigen, wie wir die Natur ausnutzen und immer einseitiger für unsere Zwecke missbrauchen. Man könnte das Waldsterben und die enormen Schäden des Borkenkäfers dokumentieren – es wäre eine kritische Perspektive, die dadurch aber vielleicht etwas wachrütteln oder bewegen kann.

„Politische Bilder sind immer subjektiv. Es ist meine Sicht auf das Ereignis.“ – Barbara Klemm

Eine fotografische Perspektive kann etwas ganz Großartiges sein. Sie kann aber auch Vielfalt zeigen und einen freien, ganz eigenen Ansatz verfolgen. Wichtig ist vielleicht einfach nur, dass man bereit ist, die eigene Perspektive manchmal zu hinterfragen und auch zu ändern. In einem erweiterten Sinn ist Perspektive dann mehr als nur die Methode, dreidimensionale Dinge und Räume auf einer zweidimensionalen Fläche abzubilden. Perspektive ist auch ein innerer Standpunkt und eine Haltung gegenüber der Welt.

„Fotografiere niemals etwas, das dich nicht interessiert.“ – Lisette Model

Als Fotografin oder Fotograf kann ich mein Motiv lieben, ich kann es neutral sachlich aus verschiedenen Winkeln untersuchen. Ich kann aber auch einfach nur ganz viel fotografieren, weil ich mich so freue und irgendwie meinen Gefühlen Luft machen möchte. Wenn man sich darauf einlässt, kann ein Wechsel der Perspektiven ganz neue Horizonte eröffnen. Mit einem fotografischen Blick kann man sich der Welt auf jeder möglichen Ebene nähern und wird doch immer wieder Überraschungen erleben. 

Besonders interessant ist es, wenn man über das Fotografieren hinaus eine Brücke schlägt. Vom Foto ausgehend lassen sich neue Beziehungen zu den Menschen, der Gesellschaft und überhaupt zur Welt um uns herum knüpfen.

­Text: Georg Cervales


Fotografie und Poesie

Feine Bilder, sinnliche Verse: in diesem Kurs öffnen wir die Fotografie für Poetisches. Es geht um Dichtkunst, die Sie mithilfe Ihrer Kamera in visuelle Kunst übersetzen.

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