»Das, worauf es am allermeisten ankommt, ist die Eigeninitiative« – Im Gespräch mit der Künstlerin Victoria Westmacott-Wrede

Wir haben mit Victoria Westmacott-Wrede über ihre Erlebnisse als langjährige Dozentin bei uns, das Unterrichten junger Menschen und ihre künstlerische Arbeit im Ruhestand geredet.


Du bist schon ewig ein Teil des Werkhauses. Erinnerst du dich an deinen ersten Tag hier?

1974 habe ich angefangen zu studieren. Es war das zweite Studienjahr bei Alanus, der sogenannte Michaels Kurs. Drei Jahre bin ich dort gewesen. Ich wollte Malerei studieren, doch meine Eltern wollten das nicht. Damals wurde man erst mit 21 Jahre volljährig, sodass ich ihre Erlaubnis brauchte. Zwei Jahre, in denen ich Kunstgeschichte studiert habe, haben wir um diese Frage gerungen, bis sie endlich ihre Einwilligung gegeben haben. Gerade zu dem Zeitpunkt erzählte mir ein Onkel, der geschäftlich in Alfter zu tun hatte, in Alfter würde eine neue Kunstschule aufmachen. Ich hatte vorher schon für mich privat Zeichenstunden genommen, sehr intensive. Ich habe also meine Zeichnungen mitgenommen und hatte dann mit Herrn Ogilvie, dem damaligen Malerei-Dozenten, ein Aufnahmegespräch. Das hat alles wunderbar geklappt und ich war einfach nur begeistert über die Aussicht, endlich Malerei studieren zu können.

Damals war der Johannishof nicht mal halb so ausgebaut wie heute. Aber es lebte eine unglaubliche Energie und Aufbruchsstimmung dort. Das hat mich einfach sehr mitgerissen. Ich war sehr angetan und sah meine Chance, eben tatsächlich Malerei studieren zu können.


Du hast im Anschluss in England studiert?

Ich habe drei Jahre bei Alanus studiert und dann war geplant, dass ich das Aufbaustudium mache und als Assistentin auch im Fach Malerei unterrichte. Aber ich hatte plötzlich das Gefühl, ich war gerade 23, ich kann einfach noch gar nicht genug. Ich weiß noch nicht genug und ich bin noch nicht reif zu unterrichten. So habe ich dann kurz vorher doch wieder abgesagt. Ich bin dann nach London gezogen und habe dort ein ganz intensives kunsthistorisches Studienjahr gemacht. Dieses war auf ein Jahr begrenzt und war vom Kunstauktionshaus Sotheby‘s.


Was hast du dort in London als Künstlerin Neues erfahren?

Es gab diesen einjährigen Kurs, der sehr intensiv war und in dem ich unglaublich viel gelernt habe.  Er betraf sowohl angewandte wie bildende Kunst und war eigentlich auf den Kunstmarkt ausgerichtet. Es war ein komplett anderer Ansatz, so auf Kunstgeschichte zu gucken. Nicht nur bei Alanus, sondern auch wenn ich damals Kunstgeschichtsbücher in Deutschland gelesen habe, war da oft eine ideelle Interpretation, eine Bewertung mit drin, manchmal schon ins Moralische gehend.

Der Kurs in England war absolut sachlich. Da ging es überhaupt nicht um Bewertung oder Interpretation. Die einzige Bewertung, die es gab, war: Ist es gut oder schlecht? Und das habe ich als sehr befreiend erlebt, weil man erst mal einfach sammeln konnte: Wissen, Erfahrung. Und es war eine unglaublich gute Sehschule für mich, weil wir so viel gesehen haben. Es war sehr intensiv. Von dieser Sehschule habe ich mein ganzes Leben, also auch in meiner Arbeit und in meinem Unterricht, profitiert.


Du hast gelernt zu sehen, was ist gut und was ist schlecht? Wann ist etwas aus künstlerischer Sicht gut? Also was braucht es, damit es gut ist?

Was ich in meinen Kursen oft gesagt habe: es gibt zwei Ebenen, eine objektive und eine subjektive Ebene. Und beides hat seine Berechtigung. Ich kann Kunst angucken und sagen, die ist gut, aber ich mag sie nicht. Objektiv deshalb gut, weil ich sehe, dass jemand nicht nur handwerklich sondern auch ästhetisch oder von der Idee her eine Substanz hat. Die subjektive, persönliche  Ebene kann sich aber ändern. Ich habe oft erlebt, dass bestimmte Künstler oder Kunstwerke eine ganz große Rolle für mich gespielt haben. Und zehn Jahre später war das nicht mehr so! Es war neutralisiert oder es hat mich nicht mehr so interessiert.  Daran habe ich gemerkt, dass man sich selber ja auch verändert und dann an einem anderen Punkt steht mit seinem Interesse an und mit seiner Auseinandersetzung mit der Kunst. Und das ist so das, was ich die subjektive Ebene nenne.

Und dann gibt es aber, glaube ich, tatsächlich eine objektive Seite der Kunst-Betrachtung. Aber das ist natürlich kritisch, denn es gibt auch Beispiele in der Kunstgeschichte, bei denen sich die Wahrnehmung der Betrachter und der Kunstkritiker verändert hat. Nur ein Beispiel ist Rembrandt, der anfangs in seinem Leben sehr geachtet war, dann, noch zu Lebzeiten, lange Zeit überhaupt nicht mehr geschätzt wurde bis er heute wieder als einer der größten Künstler der Kunstgeschichte gilt

Selbst in diesem objektiven Spektrum gibt es einen Zeitgeist, würde ich sagen. Aber trotzdem, davon bin ich überzeugt, kann man sehen, ob etwas funktioniert oder nicht, wenn man selber vielleicht im Atelier steht oder Menschen unterrichtet oder Kunstwerke betrachtet.


Du hast mir geschrieben, dass sich die »Gemüserennbahn« (der Weg von Dransdorf nach Alfter) ganz tief in dein System eingegraben hat und Alanus ein großer Teil deines Lebens war. Was war für dich besonders bedeutsam?

Besonders waren für mich zum einen die vielen menschlichen Begegnungen am Werkhaus in all den Jahren und diese Menschen zu begleiten, auf ihrem Weg zu lernen und Kunst zu schaffen. Ich empfinde auch Dankbarkeit für die gute Zusammenarbeit mit ihnen.

Zum anderen habe ich von Anfang an im Mappenkurs, dem Studienvorbereitungskurs, mitgemacht. Es fängt jetzt der 20. Winterkurs an, fünf Jahre lang gab es außerdem einen kleineren Sommerkurs. Im Grunde fängt also der 25. Kurs an.

Das war 2005 wieder so eine Pioniersituation wie damals beim Studium auch. Weil es ein ganz neuer Kurs wurde, der sich finden musste und noch nicht in einer Routine angekommen war. Jeder war wirklich bemüht, diesen neuen Kurs zu formen und zu gestalten. Und natürlich war es die Arbeit mit den vielen jungen Menschen. Ich konnte mich da so stark an mich selber in dem Alter erinnern. Manche waren ähnlich naiv, manche waren auch schon viel weiter. Manche hatten auch schon eine Ablehnung bekommen und sind deshalb gekommen. Es ist ein sehr intensiver Kurs. Das hat mir auch großen Spaß gemacht. Diese Kontinuität über viele Monate von morgens bis abends. Dadurch entsteht einfach eine starke Energie in diesem Kurs.


Hast du im Mappenkurs mal erlebt, dass jemand sich besonders entwickelt hat? Jemand, der vielleicht sehr große Sprünge gemacht hat?

Es gibt einige, aber an ein Beispiel erinnere ich besonders. Es war eine junge Frau, die schon mal abgelehnt worden war. Sie ging in Richtung Manga-Zeichnungen, saß ganz intensiv da, machte sehr starke Umrandungen und füllte sie mit Farbe. Diese junge Frau fiel mir auf, weil sie so sehr für sich war. Aber sie strahlte eine hohe Konzentration aus, wenn sie arbeitete. Das war wie so eine Glocke, unter der sie saß.

Aber ich sah, mit diesen Bildern wird sie keine Chance haben. Ich sagte ihr: »Ich glaube, damit wird es nicht klappen. Ich bitte dich jetzt, uns zu vertrauen, wenn wir dich einen anderen Weg führen.« Und das hat sie tatsächlich gemacht, was auch sehr mutig von ihr war. Sie hat sich darauf eingelassen. Sie hat dann eine Fülle geschaffen in diesen wenigen Monaten. Es war wie eine Explosion, die da einfach passiert ist.

Obwohl sie kein Abitur hatte, ist sie dann auch als Hochbegabte angekommen, also wirklich ganz besonders gut aufgenommen worden.

An sie muss ich noch oft denken, weil das wirklich ein besonderes Erlebnis war. Diese Bereitschaft, sich zu öffnen, diese Intensität der Auseinandersetzung, die sie selber dann mit der Kunst hatte, auch gedanklich. Ja, das war eins von mehreren ganz besonderen Erlebnissen.


Welcher Künstler hat dich bei deinen eigenen Arbeiten besonders beeinflusst?

Es gibt eine Künstlerin, Bridget Riley, die gerade in Berlin (bis zum 19.08.2023) eine Ausstellung hat bei der Galerie Max Hetzler. Sie wird oft mit der »Op-Art« in Verbindung gebracht. Eine ganz abstrakt arbeitende Künstlerin, deren Arbeit ich sehr, sehr verehre. In Deutschland gibt es Karin Kneffel, mit einer neo-realistischen Malerei, die ich sehr, sehr schätze. Sie hatte mit der Manus Presse in Stuttgart, das war ein Verleger für Original-Druckgrafik, auch wunderbare Aquatinta-Farb-Radierungen gemacht. Das hat auch viel mit meiner eigenen Arbeit und Druckgrafik zu tun. Zwei Künstlerinnen, die sehr verschieden sind und doch für mich in ihrer Konzentration und Stringenz irgendwie auch wieder sehr verwandt sind. Beide schätze ich sehr.

Ich mag auch David Hockney. Auch als Mensch finde ich ihn sehr sympathisch. Ich bewundere vor allem seine Vielseitigkeit und seine Entwicklungsfähigkeit. Er war der erste, der auf dem iPhone Bilder malte und als Postkarten an seine Freunde verschickte. Auch als er schon relativ alt war, hat er sich noch neue Techniken angeeignet.


Jetzt, nach 50 Jahren hört deine aktive Tätigkeit als Dozentin auf. Was wirst du als nächstes tun? Was ist dein After-Job-Projekt?

In den letzten Jahren, etwa bis Corona anfing und ich gleichzeitig offiziell Rentnerin wurde, hatte ich 70-Stunden-Wochen Unterricht und Vorbereitungen. In der Zeit ist meine eigene Arbeit sehr in den Hintergrund getreten. Es hat sich viel aufgestaut bei mir, was ich gerne noch machen möchte. Wobei ich da auch nicht zu viel drüber reden will. Ich habe das Gefühl, das nimmt dem auch Kraft.

Ich arbeite jetzt sehr gerne in kleinen und großen Büchern, mache eher nicht mehr große Leinwand-Gemälde. Ich glaube, da wird ein Schwerpunkt sein. Papier ist sowieso immer für mich ein besonderes Material gewesen, auch durch die Druckgrafik. Ich möchte Dinge tun, die immer zu kurz gekommen sind, die mir aber sehr wichtig sind. Aber ich werde nicht mehr ausstellen, oder in der Öffentlichkeit arbeiten.

Privat will ich noch ein paar Orte sehen und möchte näher an meinen Kindern und Enkeln sein.


Wenn es möglich wäre, mit welcher Künstlerin der Gegenwart würdest du gerne mal eine Tasse Kaffee trinken? Worüber würdest du dich mit ihr unterhalten?

Mit Bridget Riley, der Engländerin, die eher abstrakt arbeitet. Weil ich finde, dass in ihrer Arbeit eine Konzentration liegt. Alles Überflüssige ist weg und es ist eine große Präsenz in den Zeichen, die sie setzt. Darüber würde ich gern mit ihr sprechen, weil ich glaube, dass sie auch so gelebt und gedacht hat.

Sie hat viele Interviews gegeben, in denen sie beschreibt, wie sie zu ihren Bildern gekommen ist. Oft sind sie durch reale Umgebungen, sei es Wüste oder andere Landschaften, angeregt worden. Sie sind aber dann durch eine Verwandlung durchgegangen, bis hin zu diesen Abstraktionen, die sie geschaffen hat. Diesen Weg finde ich unheimlich spannend bei ihr. Und darüber würde ich gerne mit ihr sprechen.


Du hast in vielen Kursen unterrichtet. Welchen wichtigen Tipp aus deiner langjährigen Erfahrung würdest du angehenden Künstler:innen gerne geben?

Man kann sich ganz viel holen aus den Unterrichtssituationen, in die man kommt, sei es im Mappenkurs, sei es dann an einer Akademie oder Fachhochschule. Aber die Zeit an der Akademie ist irgendwann vorbei und man steht wieder an einem Anfangspunkt.

Das, worauf es am allermeisten ankommt, ist die Eigeninitiative. Die beste Ausbildung nützt nichts, wenn man nicht eine eigene Energie entwickelt, sich die Dinge selbst zu erringen. Ohne die wird es schwer sein. Diese eigene Energie haben und daraus eigene Initiative entwickeln! Das wäre mein wichtigster Rat.
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Victoria Westmacott-Wrede ist freie Künstlerin und Dozentin für Malerei, Zeichnung und Druckgrafik.

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