„Kunst erweitert, verdichtet und verankert Lösungskompetenz nachhaltig“, so beschreibst du es, liebe Leila. Wie kann Kunst den Blick auf Herausforderungen verändern?
Leila: Beim Kunst machen kommen wir mit unserem Körper ins Tun, und erhalten andere Möglichkeiten uns zu begreifen, Situationen zu begreifen und nachhaltig mehr Wissen zu erlangen. Das habe ich selbst erfahren dürfen und meine Erkenntnisse sind jetzt noch sehr präsent. Man hat die Erfahrung im Körper eindrücklich und abrufbar.
Hast du ein eigenes Beispiel?
Leila: Ja, das war im Rahmen von meiner Ausbildung „Coachen mit Kunst“, hier am Alanus Werkhaus. Wir haben immer auch eigene Fälle bearbeitet. In einer Bewegungssequenz ging es darum, wie viel Raum ich brauche. Ich habe mich in einem gedachten Viereck bewegt und Kathrin Keune, meine Ausbilderin, hat mich dabei mit einer Trommel begleitet. Ein ganz einfacher Rhythmus. Nach verschiedenen Sequenzen haben wir den Prozess reflektiert. Wir haben das Thema „Raum“ ausgebreitet, als physischer Raum, der Raum im Kopf oder auch der Raum für meine berufliche Weiterentwicklung. Irgendwann wurde mir klar: Das Allerwichtigste war die Trommel und gar nicht die Bewegung oder die Frage des Raums. Schließlich haben wir überlegt, welche Assoziationen ich mit der Trommel verbinde. Für mich war sofort klar: jemand oder etwas, was mir Rhythmus, Orientierung und Halt gibt. Und da sind wir dann dahin gekommen, dass ich für den Weg in meine Selbstständigkeit gerne eine Mentorin oder einen Mentor hätte. Und bis heute begleitet mich meine ehemalige Chefin als inspirierende Mentorin. Ohne den künstlerischen Prozess wäre ich nie mit dieser Klarheit, die ich mit allen Sinnen wahrnehmen konnte, zu dieser Einsicht gekommen. Und daraus hat sich etwas Tolles entwickelt.
„Man muss das Leben tanzen“ – ein Zitat, das Friedrich Nietzsche zugeschrieben wird. Kristina, du zitierst es auf deiner Website. Was drückt es für dich aus?
Kristina: Wir sind in unserem Leben immer in Bewegung. Wir reagieren ständig auf neue Situationen, äußere und innere Rhythmen. Manchmal geraten wir auch aus dem Rhythmus. Im Kontakt mit uns und der Umwelt kommen wir wieder in Fluss. So ist das Leben ein fortwährender Tanz und als Prozess zu begreifen, bei dem wir immer wieder in Resonanz gehen. Mit dem, was aus mir kommt und mit was ich in Verbindung stehe. Im Zitat von Nietzsche finde ich das sehr schön zusammengefasst: „Man muss das Leben tanzen“. Wie Leila es eben beschrieben hat, bekommt man manchmal von irgendwoher einen kleinen Impuls: Wie reagiere ich da drauf? Wie trägt mich das wieder weiter? Und wie kommen wir in einen neuen Rhythmus, in einen neuen Schwung. Gerade im Tanz kann ich mal stoppen, mich mal schnell, mal langsam bewegen. Ich kann mich auf die Melodie, den Rhythmus, den Takt konzentrieren. Ein sehr vielschichtiger Prozess.
Was bedeutet Tanzen für dich persönlich?
Kristina: Ich nehme Tanz als Ausdruckskunst wahr. Ich kann den Körper als ganz persönliches Instrument erfahren und erleben; und ihn auch als Ausdrucksmittel zu nutzen. Durch die Bewegungsempfindung, die wir dadurch erlangen können, das erlebe ich selbst und habe es auch bei TeilnehmerInnen erlebt, entsteht oft ein ganz tiefes Freiheitgefühl auf seelischer Ebene.
Ihr arbeitet in eurem Kurs mit verschiedenen Kunstformen. Welche Vorteile ergeben sich dadurch und wie gestaltet ihr das Zusammenspiel?
Kristina: Im Kern erweitern wir durch verschiedene Künste das Erleben und die Kreativität. Es geht darum, diese schöpferische Kraft zu erweitern und immer wieder in Resonanz mit Neuem zu gehen. Was kommt aus der körperlichen Erfahrung hinzu? Wie transferiere ich das ins Bildnerische, ins Malerische? Was kommt wieder zurück? Was passiert bei mir, wenn ich mein Bild tanze oder wenn ich meinen Tanz visualisiere? Wir nehmen auch ganz stark die Natur als Partner auf. Was kommen da für Impulse und Resonanzen auf mich zu und wie kann ich in Verbindung treten? Das Spannende ist der Mehrwert, die Verbindungen und auch die Erweiterungen, die durch verschiedene Kunstformen entstehen. Dadurch gestaltet sich der Tag oft wie ein tänzerisch-spielerischer Prozess, bei dem man nicht genau weiß, wo hin es führt. Das Interessante an der Kreativität und der Kunst ist, dass man sich traut, in Unerwartetes hineinzugehen. Wenn man Kunst als Prozess versteht und nicht unbedingt als ein Werk, das schon vorgedacht ist und das ich erreichen möchte.
Der Körper ist da ein entscheidendes Medium, weil er durch unsere Biografie unglaublich viel Erinnerungen hat. Alles, was wir erlebt und gefühlt haben, trägt er in sich. Das tritt im Alltag oft in den Hintergrund.
Leila: In unseren Retreats nehmen wir bei den Teilnehmenden mit Voranschreiten des Tages oft eine große Erleichterung wahr, sich auf den Weg gemacht zu haben, einfach mal künstlerisches Tun ausprobiert zu haben, losgelöst von irgendwelchen ästhetischen Ansprüchen, von Handwerk und von all dem, was man vielleicht in seinem Leben auch mit Kunst an Bewertung und Anspruch erfahren hat. Und das ist total schön zu sehen, wie sich Menschen wieder eine ihrer Kernfähigkeiten oder Wesenszüge, nämlich der Kreativität, ermächtigen. Zu unserem Ansatz: Ich glaube auch, der Mehrwert ist die Vielschichtigkeit. Wir mäandern durch die Kunstformen, wir mäandern aber auch durch unterschiedliche Schichten an Resonanzräumen. Wir haben die Natur, wir haben unterschiedliche Kunstformen, wir haben aber auch die Gruppe noch mal als Resonanzkörper, den wir uns zu eigen machen, wenn wir zum Beispiel gemeinsam Bewegungsabläufe anschauen und dazu auch mal ins Gespräch kommen oder Bilder oder Installationen. Auch das macht unsere Zusammenarbeit aus.
Veränderung passiert uns ständig – gewollt oder ungewollt. Euer Kurs trägt den Untertitel: „Kunstvoller Wandel im Herbst“. Was bedeuten die Übergänge im Jahreslauf für euch und wie greift ihr sie in eurem Kurs auf?
Leila: Übergänge sind Zeiten, wo das Alte noch und das Neue noch nicht ganz da ist. In dieser „Zwischenzeit“ bietet sich Raum für Gestaltung, Schöpfung und Kreativität. Der Herbst ist auch eine Zwischenzeit, zwischen Sommer und Winter. Das ist auch in der Natur sichtbar. Daher schauen wir besonders im Herbstretreat, was die Natur als Inspiration bietet, auch an Material, an Werkstoff, an Farben und Formen. Zum Beispiel können Teilnehmende bei einem achtsamen Spaziergang, Naturmaterialien sammeln und schauen, wie sie diese in ihr Werk integrieren. Das kann man übrigens auch gut in den Alltag einbauen – als kleine künstlerische Übung.
Kristina: Kunst ist natürlich immer interessant und kann uns in jedem Moment begleiten. Und immer gibt es besondere Momente in der Biographie. Das sind Falten, in denen Fragen entstehen, vielleicht Unsicherheiten auftreten. Gerade die Übergangszeiten sind die, die die größte Kreativität und die größten Freiräume bieten, weil etwas Neues entstehen darf. Und wo man noch nicht weiß, in welche Richtung geht es.
Wir machen das ja oft intuitiv: Kastanien sammeln im Herbst oder Blumen pflücken im Frühling oder den Duft von frisch gemähtem Gras aufnehmen: Wie setzt ihr diese Erfahrungen künstlerisch um?
Kristina: Spannend. Das sind sehr kindliche Prozesse, die du da beschreibst. Diese ins Künstlerische zu übertragen und in die eigene persönliche Erfahrung und Entwicklung zu transformieren, ist die schöpferische Kraft. Die Schätze und die Ernte in sich selbst zu finden und zu suchen. Die Natur als Inspiration nutzen. Zu erleben, genau das steckt auch in mir und ich kann es in mir freisetzen und einiges zur Blüte bringen, zum Wachsen bringen, in den Austausch bringen. Vielleicht innere Farben lebendig werden zu lassen. Das ist die Transferleistung, die dann letztlich stattfindet.
Gerade wenn es schwierig oder mühsam ist, neigt man dazu, sich in einem Problem zu verhaken, fast wie in einer Trance. Übergänge fordern uns und wir laufen Gefahr, uns zu verlieren. Was könnt ihr mit künstlerischen Mitteln tun, um Menschen zu inspirieren, wieder nach vorne zu schauen?
Leila: Ich glaube, es ist ein Stück weit eine menschliche Tendenz, sich in so eine Problemtrance zu begeben und immer weiter ins Grübeln und in einer Negativspirale zu verlieren. Das hat etwas Verengendes und Starres, weil ich nicht mehr in der Lage bin Optionen wahrzunehmen, mich handlungsfähig zu fühlen. Da haben gerade Bewegungskunst und die visuelle Kunst enormes Potenzial. Um erst mal Abstand zu gewinnen vom Problem, es sozusagen zu parken und in etwas Alternatives einzutreten, in Bewegung zu kommen, in etwas Leichtes, Spielerisches, Kreatives. Unser Kurs bietet einen alternativen Erfahrungs- und Erprobungsraum, um Handlungsoptionen zu entwickeln, Fragen zu schärfen, die Handlungsfähigkeit auch in schwierigen, unwägbaren Situationen, die das Kunstmachen immer mit sich bringt, zu erfahren. Danach dann zurückzukommen zum eigentlichen Problem oder zu der Herausforderung und zu schauen: Gibt es da etwas, was ich aus meinem künstlerischen Prozess gelernt habe und das auch hier, für meine herausfordernde Ausgangssituation relevant ist?
Kristina: Ich denke, dass noch zwei weitere Aspekte sehr wichtig sind, gerade wenn ich Kunst in einer sehr herausfordernden Lebenssituation für mich nutzen möchte, die mich erst mal vor Fragen stellt oder auch ohnmächtig werden lässt. Zum einen kann ich aus einem linearen Prozess herausgeholt werden, der immer noch sehr stark in unserer Gesellschaft verankert ist. In künstlerischen Prozessen liegt mehr Dynamik. Zum anderen das Menschsein als vielschichtig zu erleben, ist etwas sehr, sehr Wertvolles. Gerade dadurch, dass wir verschiedene künstlerische Ausdrucksformen anbieten, erweitert es die Möglichkeiten, sich als Mensch im Ganzen wahrzunehmen. Die eigenen Potenziale in den kleinsten Eckchen wieder zu entdecken und vielleicht auch manchmal Dinge, die gerade so stark im Vordergrund stehen oder uns so stark scheinen, wieder ins Verhältnis zu setzen. Es geht darum zu erkennen, dass dies ein Teil von mir ist und es aber auch ganz viele andere Teile gibt.
In welchen Situationen sind künstlerische Interventionen besonders wirksam?
Leila: Ich überlege gerade, ob ich da irgendwas rauspicken kann. Ich hätte gesagt, immer. Es ist ein wahnsinniger Schatz, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Und ich meine, das ist ja per se und immer wertvoll, einfach mal zu gucken: „Wie bin ich heute da? Wie gehe ich heute in die Welt? Wie begreife ich heute die Welt? Sich und etwas zu begreifen und auszudrücken, wenn der Kopf allein nicht mehr reicht. Und das tut er eigentlich selten.
Euer Werkhaus-Kurs ist ein kreatives Tagesretreat. Welche besondere Erkenntnis oder welches Aha-Erlebnis können eure Teilnehmer:innen im Retreat bestenfalls erfahren? Was nehmen sie mit?
Leila: Da kann die Ernte ganz, ganz vielfältig sein. Es kommt auch immer sehr darauf an, ob Leute schon mit einem Anliegen und einer Frage ins Retreat kommen oder ganz offen sind und vielleicht am Ende des Retreats mehr Klarheit über eine Frage oder ein Anliegen herrscht. Jede und jeder hat den Raum den Tag für sich zu nutzen, entweder um ein konkretes Anliegen mal anders anzugehen, eben durch einen künstlerischen Prozess, oder einfach mal wieder mit der eigenen Kreativität durch das Kunstmachen in Berührung zu kommen. Und natürlich nimmt jeder ein Bild, eine Installation und vielleicht sogar eine Bewegung mit nach Hause, die die Erlebnisse und vielleicht sogar Erkenntnisse des Tages dokumentieren.
Kristina: Schön wäre, wenn die Teilnehmenden dankbar aus diesem Tag gehen über ihre eigene Ernte, die vielleicht in Form eines Bildes oder auch in Resonanz mit der Bewegungsarbeit sichtbar geworden ist. Vielleicht mit einer Vorstellung: Was möchte ich eigentlich aus meiner Vergangenheit sichtbar machen, für mich bewahren? Oder vielleicht auch mit einer neuen Erkenntnis. Was ist entstanden im letzten Jahr, in meinem letzten Lebensabschnitt oder was auch immer betrachtet werden möchte? Was möchte ich liegen lassen oder was möchte ich gerne noch mitführen, behüten und wieder zur Reifung bringen? Im Herbst beginnt ja auch wieder ein neuer Kreislauf, es bilden sich Samen, die in der Zukunft etwas Neues hervorbringen können. Das würde ich den Teilnehmer:innen wünschen, dass sie Erkenntnisse für sich erlangen: Mit was möchte ich weitergehen und was darf ruhen? Was kann vielleicht sogar auf den Kompost und kann dort ganz neu umgewandelt werden?
Unser Johannishof ist ein besonderer Ort, wie unsere Teilnehmer:innen und Dozent:innen oft sagen. Welcher Lieblingsplatz ist für euch besonders inspirierend?
Kristina: Also mir ist direkt, ohne weiter zu reflektieren, der Apfelbaum vor Augen gesprungen, der neben dem Sandkasten vor dem Malereigebäude steht. Ein eindrücklicher und schöner Ort. Im Sommer spendet er Schatten. Ein guter Ort, Pause zu machen.
Leila: Mir ist als erstes diese kleine Brücke in den Sinn gekommen, hinter dem Studio … Das war tatsächlich einer der ersten Orte, die ich für mich entdeckt habe. Ich finde den kleinen Bach, über den die Brücke führt, sehr beruhigend. Und er ist ständig im Fluss, ständig passiert und entsteht etwas Neues, da ist ständig Übergang, in jeder Sekunde. Der Ort hat durch die vielen Bäume und das dichte Blätterdach auch etwas von einem verborgenen, angenehm kühlen Raum, der zur Einkehr und zum Verweilen einlädt. Er strahlt auch große Ruhe aus. Ich mag das sehr gerne da.
Liebe Leila, liebe Kristina, ganz herzlichen Dank euch für das Gespräch, für die Einblicke in eure Arbeit und euren Kurs. Übergänge passieren laufend und oft fordern sie uns heraus. Toll, dass ihr ein Angebot entwickelt habt, das Menschen in diesen Zeiten begleitet.
Das Interview mit Leila Broich und Kristina Schlake führte Katharina Bertulat.